bist du etwa ein mädchen?

bist du etwa ein mädchen?

Montag, 17. November 2014

was, wenn das eigene kind an handgreiflichkeiten beteiligt ist?

'Siblings' heißt dieses relief mit dem motiv kämpfender kinder. foto von jurek d.. gefunden auf flickr.com. cc-by-nc 2.0

bisher habe ich aus reinem selbstschutz (denn mütter sind immer, wirklich immer, der grund für die 'verdorbenheit' ihrer kinder) erfolgreich ausgeblendet, dass meine kinder als jungen-identifizierte und mit erwartungen an das verhalten 'richtiger' jungen konfrontierte menschen in die ihnen vorgeschriebene rolle als täter eintauchen und andere kinder drangsalieren (könnten). ich will mit dem folgenden post nicht negieren, dass auch mädchen-identifizierte zu aggressivität neigen können. und keinesfalls soll hier das stereotyp aufgebaut werden, dass 'jungen' immer aggressiv wären. dennoch behaupte ich, dass auf ihnen einer größerer anpassungsdruck in bezug auf aggressives verhalten lastet. und dass sie auch mehr möglichkeiten haben, aggressives verhalten auszuleben, da es als natürlich hingenommen wird.

als es vor einem jahr eine phase im leben meines großen kindes gab, da er seinen besten freund Bruno* offenbar jeden tag haute, schubste und kniff, konnte ich das, nachdem es mir nach vier(!) wochen von dessen entrüsteter mutter vorgeworfen wurde, schnell auf eine psychologische stresssituation zurückführen: wir waren drei monate zuvor in eine andere stadt gezogen, er war im kindergarten gut angekommen, hatte aber kurz darauf seinen erzieher an eine besser bezahlende, vollzeit bietende kita, einen seiner vier neuen freunde an einen anderen stadtteil und zwei weitere an die große gruppe im eigenen kindergarten verloren. plötzlich gab es nur noch Bruno als bezugsperson und Bruno wollte (verständlicherweise) nicht ausschließlich meinem kind als spielpartner zur verfügung stehen. mein kind - das nicht wohin wusste mit seiner trauer - wurde aggressiv. nur bekam ich von seiner aggressivität nichts mit (von der trauer wusste ich dagegen sehr wohl), was offenbar daran lag, das die erzieherinnen sein verhalten mit dem spruch quittierten: 'so sind jungs eben'. dieser konflikt traf mich hart. bis dahin war mein kind dasjenige, das gebissen wurde. aber nicht das, das wiederholt auf andere losging.

dieser tage, anderthalb jahre später, erfuhr ich von der erzieherin Lina*, dass mein kind offenbar im dreierbund mit Bruno und einem weiteren lieblingsfreund die Jule* aus der jüngeren gruppe überredet hatten, in den spielgeräte-schuppen mitzukommen. dort schüttelten sie sie und sperrten sie ein, verbarrikadierten die tür. offenbar wurde mein kind - das dienstälteste - als anführer identifiziert und mit vor-dem-mittag-allein-am-tisch-sitzen bestraft. normalerweise sei ihr motto, was im kindergarten passiere, bliebe auch im kindergarten, aber diesmal müsse sie eine ausnahme machen, sagte Lina noch, bevor sie mich bat, nicht zu schimpfen, aber doch die sache nochmal anzusprechen. das taten wir zuhause, wiederholt, getrennt und möglichst aufgeräumt und bestimmt.

wie sie auf so was kämen, fragte ich mein kind, eine woche später, weil es mir nicht aus dem kopf ging. nicht er, sagte mein kind, sondern der Bruno hätte sich das ausgedacht, weil der die Lara* nicht leiden könne. er hätte die Lara gefragt, aber die hätte nicht mitkommen wollen. da hätte der Bruno den Paul* aus der ganz kleinen gruppe gefragt, aber der hätte auch nicht mitgewollt. schließlich wäre die Jule mitgegangen. wer da nun wirklich was gesagt und getan hat, lässt sich bis hierhin nicht mit sicherheit rekonstruieren. insbesondere nicht, was denn nun der eigentliche grund ist. ich habe die befürchtung - egal wer denn nun wirklich welche initiative ergriffen hatte, dass es die neugier daran ist, durch körperliche strafen macht auszuüben, die diese kinder motiviert hat - und die suche nach einem möglichst leichten opfer sich auf zwei stereotypen fokussierte: auf mädchen und auf kleinere kinder.

ACHTUNG: TRIGGERWARNUNG FÜR DIE NÄCHSTEN DREI ABSÄTZE
mir kommt ein soziologischer aufsatz in den sinn, den ich vor einem knappen jahr gelesen habe. (Gerold Scholz: Zur Konstruktion des Kindes) der autor ist der meinung, dass es 'einfach' in der natur der menschen läge, zu quälen und töten zu wollen und dass diese ursprüngliche natur durch den akt der soziabilisierung quasi 'gebändigt' würde. dennoch sei sie unberechenbar und nie wirklich zu kontrollieren. Scholz diskutiert einen schwer zu begreifenden mordfall: 1993 töteten in England zwei jungenidentifizierte kinder ein anderes jungen-identifiziertes kind - ein mordfall, der auf der grundlage unserer vorstellungen von der unschuld des 'kindes' nicht zu begreifen ist.

um das hier einmal grundlegend festzuhalten: ich halte das für quatsch! weder gibt es eine - wie auch immer geartete - unbeeinflussbare natur des menschen. gerade die entwicklung und geschichte des menschen sollte uns eigentlich zur genüge aufgezeigt haben, wie wandelbar menschen sind und wie wenig gebunden an irgendwelche unabänderlichen biologischen gesetzmäßigkeiten. auch das, was gemeinhin als natur bezeichnet wird, ist in höchstem maße wandelbar und keinesfalls seit jahrhunderten oder seit schon immer und für ewig unabänderlich festgeschrieben. diese lesart schreibt nur jede_n einzelne_n von der verantwortung frei, weiter zu fragen, wieso menschen - egal ob groß oder klein - ihre gefährten quälen. oder sogar töten.

was zu hinterfragen bleibt, sind folglich die gesellschaftlichen strukturen und machtverhältnisse, die dem vorfall im kindergarten zu grunde liegen. wie ist (m)ein kind zu so etwas fähig? wie ist überhaupt ein mensch dazu fähig? welche kategorisierungen befördern die anfälligkeit eines menschen entweder gewalttätig zu werden und sogar zu morden, oder gewalt zu erleiden und sogar einen gewaltsamen tod zu sterben?

ich gebe zu, dass ich angst habe. es nicht zu schaffen, meine kinder, für die ich verantwortung trage, gegenüber diesen gesellschaftlichen strukturen und machtverhältnissen stark zu machen.

ich interviewe mein großes kind alle paar tage, in möglichst anschuldigungslosem tonfall, um keine nachrichtensperre zu riskieren. ich stelle nur ein oder zwei fragen und habe sehr damit zu tun, mir meine üblichen längeren vorträge zu verkneifen und stattdessen nur ein, zwei hinterfragende kommentare einzuschieben. zweifel an den motiven und den dahinter liegenden stereotypisierungen streuen, ohne meinem kind zu vermitteln, dass ich es verurteile. stattdessen betonen, wie wichtig es ist, verantwortung für andere zu übernehmen und sich für sie einzusetzen. ich komme dementsprechend nur langsam voran. und hoffe, das mein steter tropfen den stein gründlich aushöhlt.


alle namen mit * wurden von mir geändert.

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